Mehr Milch für starke Knochen? Zeit umzudenken!
Wer wüsste es nicht: Kinder, Jugendliche und Senioren – sie alle sollen möglichst viel Calcium aufnehmen, um die Knochen zu stärken. Mit Milchprodukten, calciumreichen Mineralwässern oder Supplementen. Aktuelle Studien zeigen allerdings: Für diese Empfehlungen gibt es bislang keinerlei wissenschaftliche Evidenz.
Calcium – ein essenzieller Nährstoff
Calcium ist ein essenzieller Nährstoff, der direkt oder indirekt an fast allen physiologischen Funktionen des Körpers beteiligt ist; ohne Calcium gibt es keine Muskelkontraktion, keine neuronale Signalübertragung und keine Blutgerinnung. Daneben ist Calcium essenzielle Komponente von Zähnen und Knochen, wo auch 99 % des gesamten Calciums im menschlichen Körper gespeichert sind. Insgesamt enthält der menschliche Körper rund ein Kilogramm Calcium. Hauptzufuhrquellen mit der Nahrung sind Milch und Milchprodukte, gefolgt von nichtalkoholischen Getränken (Mineral- und Leitungswasser); andere Lebensmittel spielen für die Calciumzufuhr quantitativ keine Rolle. Zwar wird immer wieder geschrieben, wie calciumreich grünes Gemüse und Nüsse sind, doch dies bezieht sich allein auf den Calcium-Gehalt und nicht auf die absolute Calcium-Menge: Um die Zufuhrempfehlungen für Calcium mit diesen Lebensmitteln zu erreichen, müssten Erwachsene beispielsweise täglich 1 Kilogramm Rucola oder 1 Kilogramm Haselnüsse essen.
Aktuelle Zufuhrempfehlungen
Obwohl die Versorgung mit Calcium im Allgemeinen gut ist, erreichen 46 % der Männer und 55 % der Frauen in Deutschland die theoretisch errechneten, empfohlenen Zufuhrmengen für Calcium nicht (NVS II) – schwere Mangelerkrankungen sind dennoch eine Rarität. Besonders hoch ist der Anteil jener Menschen, die die Zufuhrempfehlungen nicht erreichen, bei jugendlichen Frauen und bei Senioren.
Die Deutsche Gesellschaft für Ernährung (DGE) empfiehlt für Jugendliche (13 – 18 Jahre) eine Zufuhr von 1.200 mg Calcium pro Tag, für alle Erwachsenen (altersunabhängig) 1.000 mg Calcium pro Tag. Allerdings: Für diese Zufuhrempfehlungen gibt es keinerlei wissenschaftliche Evidenz. Neuere Studien deuten vielmehr darauf hin, dass die bei uns übliche, niedrigere Calciumzufuhr vollkommen ausreichend ist
Überversorgung genauso riskant wie Unterversorgung
Während eine Unterversorgung mit Calcium u. a. zu einer mangelhaften Knochenmineralisierung (Rachitis) oder einer Knochenerweichung (Osteomalazie) führen kann, hat auch eine Überversorgung mit Calcium potenziell schwerwiegende Folgen, u. a. in Form von Nierensteinen, Nierenversagen und Herzrhythmusstörungen (Weaver 2011, Jackson et al. 2006). Im Rahmen einer üblichen vollwertigen Ernährung ist eine Überversorgung mit Calcium ausgeschlossen; durch die Einnahme von Calcium-Supplementen ist dies aber durchaus möglich.
Kritische Calcium-Supplemente
Doch die unkritische Einnahme von Calcium-Supplementen birgt weitere Gesundheitsrisiken: Während der Zusammenhang zwischen Calcium-Supplementen und einem erhöhten Risiko für koronare Herzkrankheit und Herzinfarkt noch kontrovers diskutiert wird, konstatiert der World Cancer Research Fund (WCRF) bereits für eine Einnahme von 1.500 mg/Tag eine Risikoerhöhung für das Prostatakarzinom. Insgesamt ist der mögliche Zusammenhang zwischen erhöhter Calciumzufuhr und Krebsrisiko noch nicht abschließend geklärt.
Studien zur Calciumzufuhr im Jugendalter
Im American Journal of Clinical Nutrition sind nun zwei Studien erschienen, die sich mit der Bedeutung der Calciumzufuhr im Jugendalter beschäftigen. Die Studie von Lappe et al. (2017) beleuchtet den Zusammenhang zwischen dem Verzehr von Milchprodukten und dem Körpergewicht von 274 13- bis 14-jährigen Mädchen. Zu Beginn der Studie lag die tägliche Calciumaufnahme der Mädchen unter 600 mg/Tag – die DGE-Zufuhrempfehlung für diese Altersgruppe beträgt 1.200 mg/Tag. In den folgenden zwölf Monaten wurde dann die Calciumaufnahme der Mädchen über Milch und Milchprodukte auf durchschnittlich 1.518 mg/Tag erhöht; in der Vergleichsgruppe betrug die Calciumaufnahme in dieser Zeit durchschnittlich nur 752 mg/Tag. Nach einem Jahr zeigten sich zwischen beiden Gruppen keine Unterschiede hinsichtlich Gewicht oder Körperfett.
Die zweite aktuelle Studie (Vogel et al. 2017) untersuchte den Effekt einer erhöhten Calciumzufuhr bei normal- und übergewichtigen Kindern im Alter zwischen 8 – 16 Jahren. Zu Beginn der Studie lag die tägliche Calciumaufnahme bei unter 800 mg. Während der 18 Monate dauernden Untersuchung wurde die Calciumzufuhr über Milchprodukte (3 Portionen pro Tag à 300 mg Calcium) erhöht; für die Interventionsgruppe resultierte daraus eine Gesamt-Calciumzufuhr von 1.500 mg/Tag, für die Kontrollgruppe von ca. 1.000 mg/Tag. Zwischen beiden Gruppen zeigte sich kein signifikanter Unterschied hinsichtlich Knochendichte oder Körperzusammensetzung.
Diese Daten liefern damit neue Argumente in der Diskussion darüber, ob die Zufuhrempfehlungen für Calcium nicht per se zu hoch, unrealistisch oder ohnehin völlig ohne Evidenz sind.
Niedrige Calciumzufuhr bei Jugendlichen ohne Folgen
In der Lebenswirklichkeit beträgt die mediane Calciumzufuhr in Deutschland bei Jugendlichen im Alter von 15 – 18 Jahren 684 mg/Tag (Frauen) bzw. 822 mg (Männer) (NVS II); im Gegensatz dazu empfiehlt die DGE für diese Alterskohorte eine besonders hohe Calciumzufuhr von 1.200 mg/Tag – womit in der Realität die Calciumzufuhr insbesondere bei jungen Frauen nur gut die Hälfte der Zufuhrempfehlungen erreicht.
Doch bereits frühere Studien hatten gezeigt, dass der gesundheitliche Benefit der relativ hohen, offiziellen Zufuhrempfehlungen für Calcium mehr als fraglich ist. In der Tat gibt es für die Richtigkeit dieser Empfehlungen keine wissenschaftliche Evidenz. Im Gegenteil zeigen die empirischen Daten, dass für die optimale Knochengesundheit im Jugendalter die bei uns übliche Calciumzufuhr zwischen 700 – 800 mg/Tag völlig ausreicht, obwohl dieser Wert deutlich unter den Zufuhrempfehlungen der Fachgesellschaften liegt. Denn eigentlich sollte man in so einer Konstellation erwarten, dass ein klinisch manifester Calciummangel infolge der nominellen „Mangelversorgung“ häufig ist. Dem ist jedoch nicht so. Die aktuellen Studien liefern daher einen weiteren Anstoß dafür, die allgemeinpräventiven Zufuhrempfehlungen auf den Boden wissenschaftlicher Evidenz zu bringen und sie entsprechend nach unten zu korrigieren (Zemel 2017).
Bei Älteren: erhöhte Calciumzufuhr ohne Vorteil
Was für Kinder und Jugendliche gilt, zeigt sich in ähnlicher Weise auch für ältere Menschen. Auch hier belegen aktuelle Daten, dass der routinemäßige Hinweis darauf, gerade ältere Menschen sollten sich im Sinne einer Osteoporose- oder sogar Sturzprophylaxe möglichst calciumreich ernähren bzw. regelmäßig Supplemente einnehmen, so nicht aufrechterhalten werden kann.
Erst 2015 konnte die Arbeitsgruppe von Mark Bolland in einer großen Meta-Analyse (59 randomisiert-kontrollierte Einzelstudien, über 13.000 Probanden) zum fraglichen Zusammenhang von Calciumzufuhr und Knochendichte bei Menschen über 50 Jahren zeigen, dass es keinen linearen Zusammenhang zwischen der Calciumzufuhr und der Knochendichte gibt, und dass die über Supplemente maximal mögliche Knochendichtesteigerung von 2 % klinisch in keiner Weise relevant ist (Tai et al. 2015).
Und für die Praxis noch wichtiger: Auch zwischen der Calciumzufuhr über Lebensmittel und dem Risiko für Knochenbrüche (Frakturrate) gibt es bei älteren Menschen ohne manifeste Osteoporose keinen Zusammenhang (Bolland et al. 2015). Das heißt, die landläufig immer noch weit verbreitete Annahme, eine erhöhte Calcium-Zufuhr könne bei gesunden Menschen der Entstehung von Osteoporose entgegenwirken oder Knochenbrüchen vorbeugen, ist durch die Studienlage widerlegt. Die Autoren dieser ebenfalls sehr großen und vielbeachteten Meta-Analyse (76 Einzelstudien mit > 77.000 Probanden) ziehen auf sehr guter Datenbasis deshalb eine eindeutige Schlussfolgerung: Zur Primärprävention von Knochenbrüchen sollte keine Empfehlung für eine erhöhte Calciumzufuhr gegeben werden, und zwar weder über Supplemente noch über eine Ernährungsumstellung.
Osteoporose-Medikamente: gefährliche Wechselwirkung
Apropos Osteoporose: Die im Rahmen der Osteoporose-Therapie als Standardmedikamente angewendeten Bisphosphonate (z. B. Alendronsäure, Zoledronsäure usw.) werden praktisch wirkungslos, wenn sie zusammen mit Milch oder Milchprodukten eingenommen werden. Das sollte dringend beachtet werden, da viele Patienten diese Medikamente sogar vorsätzlich mit Milch einnehmen, in der irrigen Annahme, diese Kombination sei sogar besonders gut für ihre Knochen (Smollich & Podlogar 2016).
Erfahrungswissen und Referenzwerte: Evidenz ist fraglich
Die genannten Beispiele zu den offiziellen Zufuhrempfehlungen von Calcium bei Jugendlichen und bei Älteren zeigen eindrücklich, dass in der Ernährungsmedizin viele überlieferte „Erfahrungswahrheiten“ wie z. B. „Mehr Milch ist gut für die Knochen“ einer wissenschaftlichen Überprüfung nicht standhalten. Es ist dringend erforderlich, dass auch in die Empfehlungen der Ernährungstherapie mehr kritische Wissenschaftlichkeit einkehrt.
Dies gilt erst recht für die Interpretation der „offiziellen“ Zufuhrempfehlungen und Referenzwerte. Prüft man diese kritisch, ist die Datengrundlage zur Begründung in aller Regel mehr als fraglich. Denn anders als bei den Dosisangaben für Arzneimittel liegen den Zufuhrempfehlungen für Nährstoffe keine empirischen Dosisfindungsstudien zugrunde, sondern allein theoretische Überlegungen.
Das sollte einerseits Anlass zur wissenschaftlichen Überprüfung der Zufuhrempfehlungen geben. Andererseits zeigen die aktuellen Studien – und zwar nicht nur für Calcium – auch etwas Anderes, das für die Ernährungstherapie extrem wichtig ist: Die „offiziellen“ Zufuhrempfehlungen (für was auch immer) dürfen nicht pedantisch als quasi-gesetzliche Vorgaben verstanden werden, die auf höchster wissenschaftlicher Evidenz basieren.
Das Wissen um diese Zusammenhänge kann zudem Patienten entlasten, denen es schwer fällt, die für Calcium „geforderten“ 1.000 mg pro Tag irgendwie zu erreichen. Denn objektiv ist es so: Niemand weiß, ob 1.000 mg pro Tag besser oder schlechter sind als 700 mg, 1.200 mg oder 1.500 mg. Entspannen wir uns also.
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Vielen Dank für diesen interessanten, klaren und gut belegten Beitrag! Sicher ist körperliche Bewegung das wirksamste Knochenstärkungsmittel. Aber Konsumieren ist natürlich beliebter als sich zu bewegen.
Danke für den interessanten Artikel und die kritische Beleuchtung von Zufuhrempfehlungen, die meist einfach hingenommen werden ohne hinterfragt zu werden!
Sicherlich wäre es hilfreich Langzeitstudien zu dem Thema zu machen. Denn interessanter als der Körpergewichtsverlauf von nur ein paar Jahren bei Jugendlichen wäre ja wie hoch die Peak bone Mass ist im jungen Erwachsenalter und ob in hinblick auf die Calciumaufnahme in die Jugend es einen Zusammenhang zur Osteoporoseentstehung im Alter gibt.
Auch wenn der Artikel mittlerweile fast 3 Jahre alt ist, würde ich ihn immer noch als sehr lesenswert einstufen. Interessant finde ich auch beim Thema Kalzium, dass Mineralwässer oftmals unbeachtet bleiben – und das obwohl hier teilweise spielend mit 1,5-2 l am Tag zwischen 700 – 1000 mg (oder mehr) erreicht werden können. Im Artikel werden sie zumindest anfangs erwähnt. Nun ja gegen damalige Werbeslogan wie “Milch macht müde Männer munter.” kam bislang kein Wässerchen an…
Dann kann ich mit einer Osteopenie also weiter Hafermilch statt Milch trinken.