Mysimba® kommt: Gefährliche Diätpille zugelassen
Weitgehend unbemerkt von der Öffentlichkeit ist im Januar 2018 in Deutschland eine neue Diätpille auf den Markt gekommen – trotz erheblicher Sicherheitsbedenken. Bei Mysimba® handelt es sich um die kritische Kombination eines Amphetamin-artigen Antidepressivums und eines Wirkstoffs aus dem Drogenentzug.
Kombination kritischer Einzelstoffe
Einer der beiden Wirkstoffe in dem neu zugelassenen Kombinationspräparat ist Bupropion, das zur Gruppe der Amphetamine gehört und das die Noradrenalin-Konzentration in den Synapsen des Gehirns erhöht; zusätzliche Wirkungen auf den Neurotransmitter Dopamin sind strittig. Als Einzelsubstanz eingesetzt wird Bupropion bisher zur Raucherentwöhnung und zur Behandlung schwerer Depressionen. Nach der Erstzulassung in den USA 1984 wurde Bupropion zwei Jahre später wegen des Risikos tödlich verlaufender Krampfanfälle vom Markt genommen. 1989 wurde es dann in niedrigerer Dosierung wieder in den Handel gebracht. Zu den häufigen Nebenwirkungen von Bupropion gehört – neben Angstzuständen, Schlaflosigkeit, Tinnitus, Bauchschmerzen, Hautausschlag, Fieber, allgemeiner Schwäche und Blutdrucksteigerungen – auch Appetitminderung.
Der zweite Wirkstoff der Mysimba®-Kombination ist Naltrexon, ein im Opiat- und Alkoholentzug eingesetzter Opioidrezeptor-Blocker. Die Wirksamkeit im Opiatentzug ist fraglich. Auch bei Naltrexon ist die Appetitminderung eine bekannte Nebenwirkung – gemeinsam mit anderen häufigen Nebenwirkungen wie Schlaf- und Affektstörungen, Herzrasen, Herzrhythmusstörungen, Brust-, Gelenk- und Kopfschmerzen, Impotenz, allgemeiner Schwäche, Schüttelfrost und Hautausschlägen.
Blutdrucksteigerung inklusive
Angesichts dieser Aufzählung an nach Herstellerangaben häufigen (!) Nebenwirkungen wirkt die Idee, beide kritischen Wirkstoffe in einem Kombinationspräparat zusammenzuführen, schon sehr befremdlich. Vollends unverständlich wird die Zulassung des Kombinationspräparats, wenn man sich die Indikation anschaut, für die Mysimba® eingesetzt werden darf: Mysimba® ist zugelassen zum “Gewichtsmanagement” bei Erwachsenen mit einem BMI ≥ 30 kg/m² bzw. mit einem BMI ≥ 27 kg/m², wenn eine “gewichtsbezogene Begleiterkrankung” vorliegt. Als ein Bespiel dieser “gewichtsbezogenen Begleiterkrankung” nennt der Hersteller in der Fachinformation Bluthochdruck. Aus pharmakologischer Sicht ist die Idee, bei übergewichtigen Bluthochdruckpatienten gleich zwei Wirkstoffe parallel anzuwenden, die schon jeder für sich genommen zu Blutdrucksteigerungen und Herzrasen führen kann, ziemlich absurd.
Zugelassen schon bei leichtem Übergewicht
Noch absurder ist jedoch die ernährungsmedizinische Perspektive: Die Anwendung von Mysimba® ist ab einem BMI von 27 kg/m² zulässig. Allgemein wird die BMI-Spanne von 25 – 30 kg/m² als diagnostisches Kriterium für Übergewicht angesehen, ein BMI > 30 kg/m² für Adipositas. (Wer seinen eigenen BMI nicht kennt, kann ihn hier ganz schnell berechnen lassen.) Damit darf Mysimba® als Kombinationsprodukt zweier schon in der Einzelanwendung bedenklicher Arzneistoffe bereits bei sehr mäßigem Übergewicht verschrieben werden.
Und es kommt noch schlimmer: Die Zulassung von Mysimba® ab einem BMI ≥ 27 kg/m² erfolgt ohne Berücksichtigung des Alters. Das “wünschenswerte” Körpergewicht nimmt aber mit dem Alter zu. Bereits in der Altersgruppe ab 45 Jahren liegt dieser wünschenswerte BMI bei 22 – 27 kg/m² – schließt also den therapiedefinierenden BMI von 27 kg/m² mit ein. Die Vorstellung, einem 45-Jährigen mit einem BMI von 27 kg/m² und Bluthochdruck die weiter blutdrucksteigernde Kombination von Amphetamin-Derivat und Entzugswirkstoff mit erheblichen Nebenwirkungen zu verordnen, ist vollkommen absurd. Die Zulassungsbehörden haben das offensichtlich anders gesehen.
Studienlage zur Wirksamkeit
Die Zulassung von Mysimba® war – vor diesem Hintergrund mehr als verständlich – von Anfang an sehr umstritten. So hatten insbesondere die französische und die irische Arzneimittelbehörde erhebliche Sicherheitsbedenken. Schließlich waren in den vergangenen Jahren fast alle Amphetamin-haltigen Diätpillen vom Markt genommen worden – wegen eines negativen Nutzen-Risiko-Profils und schwerwiegender, teilweise tödlich verlaufender Nebenwirkungen. Die europäische Arzneimittelbehörde EMA erteilte Mysimba® dennoch 2015 die Zulassung, und mit Beginn des Jahres 2018 hat die Vermarktung auch in Deutschland begonnen.
Die Zulassung basiert auf vier doppelblind-randomisierten Studien (28 – 56 Wochen Studiendauer), bei denen 505 bis 1.742 Erwachsene Mysimba® einnahmen – kombiniert mit Diät, verstärkter körperlicher Aktivität und Verhaltensschulungen (Greenway et al. 2010, Wadden et al. 2011, Apovian et al. 2013, Hollander et al. 2013). Der BMI der Studienteilnehmer lag zwischen 27 und 45 kg/m², das mittlere Körpergewicht zwischen 99 – 106 kg. Kardiovaskuläre Vorerkrankungen hatten weniger als 1 % der Teilnehmer (das dürfte in der Realität anders aussehen). Die Gewichtsabnahme im Vergleich zum Ausgangsgewicht betrug durch Mysimba® 5 – 9,3 %, durch Placebo 1,3 – 5,1 % (statisch signifikanter Unterschied). Die Differenz zwischen der Mysimba®– und der Placebo-Gruppe lag zum Studienende bei 3 – 5 kg. Die von der amerikanischen Arzneimittelbehörde FDA geforderte Mindestdifferenz von 5 % zwischen Wirkstoff- und Placebo-Gruppe wurde damit in keiner der vier Studien erreicht.
Eine mindestens 5 %-ige Reduktion des Ausgangsgewichts erreichten 45 – 66 % der Mysimba®– und 16 – 43 % der Placebo-Gruppe (statisch signifikanter Unterschied). Wie sich die langfristige Gewichtsentwicklung nach Absetzen des Medikaments verhält, ist nicht bekannt. Vorläufige Ergebnisse deuten jedoch auf eine Gewichtszunahme hin (EMA 2018). Vollkommen unbekannt ist, wie sich Mysimba® auf Adipositas-assoziierte Begleiterkrankungen oder die Sterblichkeit auswirkt.
Appetitminderung durch Übelkeit und Erbrechen
Der exakte Mechanismus, über den Mysimba® zu einer Appetitminderung führt, ist unklar. Doch die Studien liefern Hinweise: Insgesamt brachen doppelt so viele Teilnehmer der Mysimba®-Gruppe die Studie vorzeitig ab wie Teilnehmer der Placebo-Gruppe (24 % vs. 12 %) – was weder für die Wirksamkeit noch für die Verträglichkeit spricht. Zu den häufigsten Nebenwirkungen gehörten Bauchschmerzen, Übelkeit und Erbrechen; dass auch diese Nebenwirkungen maßgeblich zur “Appetitminderung” beitragen, ist offensichtlich. Während drei Patienten unter Mysimba®-Therapie einen Herzinfarkt erlitten, gab es in den Placebo-Gruppen keinen Herzinfarkt.
Sicherheitsdaten fehlen
Sowohl die amerikanische als auch die europäische Arzneimittelbehörde halten weitere Studien zur Sicherheit von Mysimba® für zwingend und haben sie zur Auflage der Zulassung gemacht. Die Ergebnisse dieser Sicherheitsstudien werden allerdings frühestens für das Jahr 2022 erwartet. Der arzneimittelrechtlich unbedarfte Laie würde vermutlich erwarten, dass eine Zulassung erst dann erteilt wird, wenn diese Sicherheitsdaten vorliegen. Dem ist jedoch nicht so.
Aufgrund der aktuellen Studiendaten ist es weder pharmakologisch noch ernährungsmedizinisch nachvollziehbar, dass Mysimba® die Zulassung erteilt wurde. Über die Hintergründe dieser Entscheidung kann man nur spekulieren.
Fazit: Finger weg von Mysimba®
Bei unklarer Wirksamkeit, kritischer Nutzen-Risiko-Relation, schwerwiegenden Nebenwirkungen und fraglicher Auswirkung auf die mittelfristige Gewichtsentwicklung und die Sterblichkeit sollte die Entscheidung gegen Mysimba® leichtfallen. Von der Anwendung kann – insbesondere angesichts wirksamer ernährungstherapeutischer Alternativen – nur dringend abgeraten werden.
Patienten, die unterstellen, die Sicherheit eines Arzneimittels könne vorausgesetzt werden, nur weil es von den Behörden zugelassen wurde, sollten auf die fehlenden Daten zur kardiovaskulären Sicherheit, zur Sterblichkeit und zu unbekannten Langzeiteffekten aufmerksam gemacht werden. Weiter erleichtert wird die Entscheidung möglicherweise durch die Kosten: Die monatlichen Therapiekosten für Mysimba® betragen aktuell 124 EUR; das bislang teuerste Abnehmmittel Xenical® (Orlistat) kostet monatlich 98 EUR (Generika ca. 30 EUR).
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