Neu erschienen: „Harvard Medical School Guide Gesunde Ernährung“ von Walter C. Willett
„Eat, drink and be healthy” von Walter C. Willett erschien erstmals vor über 20 Jahren und wurde in den USA zum Bestseller. Nun gibt es die erste deutsche Übersetzung dieses Buches, mit der Willett die seriöse Ernährungswissenschaft alltagstauglich machen möchte. Ist das gelungen?
300 Seiten gesunde Ernährung
Der Mediziner und Epidemiologe Walter C. Willett ist einer der bekanntesten Ernährungswissenschaftler weltweit. Er war über 25 Jahre Leiter der Abteilung Ernährung der Harvard T.H. Chan School of Public Health und Professor an der Harvard Medical School. Mit seiner Neuerscheinung Harvard Medical School Guide Gesunde Ernährung möchte Willett „im Dschungel der widersprüchlichen Ernährungsempfehlungen und Food-Trends“ mit einem „guten Kompass“ weiterhelfen. Das erinnert stark an Bas Kasts „Ernährungskompass“, und tatsächlich sind die inhaltlichen Überschneidungen groß. Das sollte allerdings nicht überraschen: Wenn man die wissenschaftliche Studienlage zum Thema „gesunde Ernährung” sachlich und ideologiefrei analysiert, kommt man automatisch zu ähnlichen Schlussfolgerungen – egal ob als Wissenschaftler oder als Journalist.
Die deutsche Erstausgabe umfasst 300 Seiten mit 15 übersichtlichen Kapiteln. In den ersten drei Kapiteln erläutert Willett die Grundprinzipien gesunder Ernährung, um dann auf die Bereiche Körpergewicht, Fette, Kohlenhydrate, Proteine, Obst und Gemüse sowie Getränke einzugehen. So weit, so klassisch. Die Rahmenerweiterung findet dann mit Kapiteln zu Nahrungsergänzungsmitteln, der Planetary Health Diet, einem „Verzeichnis der Körner und Saaten“ sowie einem eigenen Calcium-Kapitel statt. Warum Calcium hier wichtiger ist als alle anderen Mikronährstoffe, bleibt allerdings unklar.
Zur Auflockerung gibt es Kästen und Einschübe, in denen Willett mit zahlreichen Mythen aufräumt: Kaffee ist nicht ungesund, man muss nicht zwei Liter Flüssigkeit pro Tag trinken, Süßstoffe sind nicht gefährlich und Detox funktioniert nicht.
Ernährungspolitik, populäre Irrtümer und Planetary Health
Das Buch beginnt direkt mit der Zusammenfassung in Form des Gesunden Tellers nach Harvard, der 2011 von Willetts Arbeitsgruppe konzipiert und in zahlreiche Sprachen übersetzt wurde. Etwas seltsam ist allerdings, dass diese Abbildung gleich drei Mal an verschiedenen Stellen im Buch auftaucht. Vielleicht soll sie so besser hängenbleiben.
Unterhaltsam und aufschlussreich sind die Erfahrungen mit Fachgesellschaften und Politik, die Willett über Jahrzehnte gesammelt hat und an denen er Leserinnen und Leser teilhaben lässt. Im Kapitel „Blick hinter die Kulissen der Ernährungsforschung“ benennt er fundiert die politisch motivierten Ernährungsirrtümer der Vergangenheit und weist auf die fatalen Lobbyeinflüsse bei der Erstellung von Ernährungsempfehlungen hin.
Besonders schlecht weg kommen dabei die offiziellen „Dietary Guidelines for Americans“: „Die Schwachstellen der Richtlinien sind eine Schande, weil Millionen von Menschen sie als Muster für eine gesunde Ernährung betrachten“, so Willett. Und weiter: „Was für Amerikas Landwirte gut ist, ist nicht zwangsläufig auch gut für die Gesundheit der Amerikaner.“ Hier sieht man zurecht Paralleln zur Situation in Deutschland. Es ist eine Stärke dieses Buches, dass es sich nicht um eine reine Übersetzung handelt, sondern dass sachkundig auch Hinweise auf deutsche Verhältnisse eingefügt wurden. So heißt es in diesem Zusammenhang: „In ähnlicher Weise steht in Deutschland das Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft im Spannungsfeld zwischen einer gesunden und ressourcenschonenden Ernährung und wirtschaftlichen Interessen der Agrarindustrie.“
Auch die aus Willetts Sicht „gesundheitsschädlichen Fehler“ der offiziellen amerikanischen Food Guide Pyramid werden thematisiert: U.a. kritisiert er, dass danach Milchprodukte als essenziell gelten, alle Fette gleichermaßen als schlecht sowie alle komplexen Kohlenhydrate und alle Proteinquellen als gleichermaßen gut. Seinen Gegenentwurf stellt die Harvard Healthy Eating Pyramid dar.
Differenziert ist der Vergleich der Harvard Health Eating Pyramid mit der DGE-Lebensmittelpyramide: Willett sieht viele Gemeinsamkeiten, aber auch kleinere Unterschiede (Salz, Eier, Milchprodukte, Kartoffeln). In einem eigenen Abschnitt bewertet Willett die „10 Regeln der DGE“ und beurteilt sie durchaus positiv – was einige Leser*innen sicherlich überraschen wird: „Diese Regeln geben insgesamt eine gute Orientierung.“ Allerdings kritisiert er, dass von der DGE keine Unterscheidung zwischen rotem und weißem Fleisch vorgenommen wird und dass es eine Empfehlung zum täglichen Käseverzehr gibt.
Wohltuend undogmatisch und differenziert
In den inhaltlichen Kapiteln zeigt sich Willett erwartungsgemäß auf dem aktuellsten Stand der Wissenschaft. Er postuliert keine spezielle Diätform (was für seine Seriosität spricht), sondern empfiehlt den Gesunden Teller nach Harvard und die Harvard Healthy Eating Pyramid als Leitplanken einer gesundheitsförderlichen Ernährung, die individuell angepasst werden müssen.
Dabei ist Willett nicht dogmatisch, sondern selbst bei kontroversen Themen wie Low Carb oder Paläo-Diät wohltuend differenziert. So konstatiert er zwar: „Für gewöhnlich sind Low-Carb-Diäten besser als Low-Fat-Diäten dazu geeignet, Menschen beim Abnehmen zu helfen.“ Gleichzeitig rät er aber von Low-Fat-Diäten nicht grundsätzlich ab. Entscheidend bei der Reduktion von Kohlenhydraten sei, was stattdessen mehr gegessen werde. Positiv bewertet Willett Kohlenhydrate aus Vollkorn, Obst, Gemüse und Bohnen. Deutlich ist sein Urteil bei einem Lieblingslebensmittel der Deutschen: „Vergessen Sie Kartoffeln!“
Ein weiteres Beispiel dafür, dass Willett datenbasiert und undogmatisch argumentiert: Anders als die meisten Ernährungswissenschaftler verdammt er süßstoffhaltige Getränke nicht in Bausch und Bogen. Zwar rät er bei den Getränken wenig überraschend zu Wasser (ggf. mit einem Schuss Fruchtsaft), stellt aber dennoch klar: „Halten Sie es mit der Diät-Limo wie der Raucher mit einem Nikotinpflaster: Sie kann Ihnen bei der Entwöhnung von zuckergesüßten Softdrinks helfen, aber auf lange Sicht möchten Sie eigentlich nicht darauf setzen.“
Doch wie sieht es beim hochemotionalen Fleisch-Thema aus?
Willett ist kein Vegan-Aktivist
Walter Willett wird von Kritikern gerne als „Fleischhasser” und Aktivist für vegane Ernährung dargestellt. Das ist jedoch keineswegs der Fall. So hält er (zutreffenderweise) eine hohe Zufuhr von Milchprodukten zwar nicht für essenziell, um ausreichend mit Calcium und Protein versorgt zu sein: „Milch und Molkereiprodukte sind nicht unbedingt die beste Quelle für Calcium.“ Dennoch rät er nicht vollständig von Milch, Joghurt und Käse ab. Verarbeitetes und rotes Fleisch sieht er (zutreffenderweise) im Hinblick auf die individuelle und planetare Gesundheit kritisch, empfiehlt aber andererseits durchaus Geflügelfleisch und Fisch.
Auch zu Eiern ist sein Statement eindeutig: „Keine Untersuchung hat je gezeigt, dass Menschen, die regelmäßig Eier essen, mehr Herzanfälle bekommen als andere, die keine Eier essen.“ Selbst einer Paläo-Ernährung kann er etwas Positives abgewinnen, wenn dadurch nicht der Jagd-Aspekt (Fleisch, Fleisch, Fleisch) betont wird, sondern im Gegenteil der Sammler-Aspekt (Nüsse, Samen, Vollkorn, Gemüse).
Gesättigte Fettsäuren runter, pflanzliches Protein rauf
Das Thema “gesättigte Fettsäuren” ist ernährungswissenschaftlich nicht annähernd so kontrovers, wie es einige Experten gerne glauben machen wollen. Willetts unmissverständliches Statement dazu lautet: „Gesättigte durch ungesättigte Fette zu ersetzen rettet Leben“. Anhand der Studienlage macht der Autor deutlich, dass „die Vorteile ungesättigter Fette hinreichend belegt“ sind. Was an dieser Stelle fehlt ist leider der Hinweis auf Algenöle als hochwertige und ökologisch vorteilhafte Quelle für Omega-3-Fettsäuren – ein kleiner Wermutstropfen bei Willetts Empfehlung, 2- bis dreimal pro Woche Fisch zu essen.
Bei den Proteinen lässt Willett das überkommene Konzept der „biologischen Wertigkeit“ hinter sich und empfiehlt, den Proteinbedarf überwiegend aus pflanzlichen Proteinquellen zu decken. Vor allem den wachstumstimulierenden Effekt von Milch und Molkereiprodukten sieht er als wesentlichen Grund gegen den häufigen Verzehr jenseits des Kindesalters. Hauptgrund für die Präferenz pflanzlicher Proteinquellen ist, dass mit dem Verzehr pflanzlicher Proteine das Risiko für Herz-Kreislauf-Krankheiten sinkt, während es bei hohem Verzehr tierischer Proteine steigt.
Multivitamin-Tabletten als “Lebensversicherung”
Im Kapitel zu Nahrungsergänzungsmitteln räumt Willett mit einigen beliebten Marketing-Aussagen auf, beispielsweise indem er erläutert, dass Supplemente mit Antioxidanzien nicht vor Krebs schützen und Vitamin-C-Präparate bei Erkältungen unwirksam sind. Er geht hier zwar immer von den amerikanischen Referenzwerten aus, allerdings sind in der Übersetzung auch die deutschen Zufuhrempfehlungen der DGE ergänzt, was die Orientierung erleichert.
Bei Vitamin D empfiehlt Willett die unspezifische Supplementation von 800 – 2.000 I.E. pro Tag. Unerwähnt bleiben die Studienergebnisse zum Zusammenhang von Vitamin B12 und einem erhöhten Krebsrisiko.
Zusammenfassend rät Willett zur regelmäßigen Einnahme eines Multivitamin-Supplements, wie es sich ebenfalls in (neben) der Harvard-Pyramide findet. Darüber kann man kontrovers diskutieren. Zumindest begründet er diese Empfehlung nicht mit der (nicht vorhandenen) Evidenz für Gesundheitsvorteile; vielmehr vergleicht er Multivitamin-Präparate mit einer „Lebensversicherung“: „Eine Multivitamin-Tablette kann natürlich keinesfalls eine ausgewogene und abwechslungsreiche Ernährung ersetzen.“ Aber: „Sie kann in der Ernährung Löcher auffüllen, die sich manchmal selbst bei den bewusstesten Essern auftun.“ Diesem Argument kann man schlecht widersprechen.
Vorwissen ist hilfreich
Obwohl der Schreibstil klar und gut verständlich ist, ist das Buch für Neueinsteiger vermutlich etwas zu wissenschaftlich gehalten. Wer kein Vorwissen dazu mitbringt, was es mit gesättigten und ungesättigten Fettsäuren auf sich hat, was Aminosäuren sind und wie sich HDL- und LDL-Cholesterol unterscheiden, dürfte einige Schwierigkeiten haben. Nicht geeignet ist das Buch außerdem für Menschen, denen es um die Therapie ernährungsbedingter Krankheiten geht – es ist ein Buch der Prävention.
Außerdem dürfte es vielen Menschen nicht leicht fallen, die ernährungswissenschaftlichen Fakten in die eigene Küche zu übertragen. Der Gesunde Teller nach Harvard und die Healthy Eating-Pyramide sind zwar lebensmittelbasiert, aber es braucht doch einige Kreativität und Kochkünste, um daraus die täglichen Gerichte zu kreieren. Passende Rezepte liefert das Buch nicht – aber das ist auch nicht sein Anspruch.
Fazit: Wissenschaftliche Basis gesunder Ernährung
Der Harvard Medical School Guide Gesunde Ernährung ist wissenschaftlich fundiert und auf dem aktuellsten Stand des Wissens. Das Literaturverzeichnis enthält 333 gut gewählte Quellen. Willett schreibt anschaulich und vertritt keine Weltanschauung, sondern stellt die Studienlage differenziert, undogmatisch und fachlich korrekt dar. Wer eine umfassende Übersicht zum Thema “gesunde Ernährung” sucht und etwas Vorwissen mitbringt, wird hier auf jeden Fall fündig.
Nicht geeignet ist das Buch dagegen für die Ernährungstherapie. Auf das neunseitige (!) Kapitel zur Ernährungstherapie hätte man besser verzichtet, da Themen wie Krebs oder Fettstoffwechselstörungen nicht seriös auf jeweils einer halben Seite abgehandelt werden können.
Und eine Kleinigkeit am Rande für Alle, denen solche Dinge ebenfalls wichtig sind: Es spricht sehr für das deutschsprachige Lektorat des TRIAS-Verlags, dass diese Erstausgabe ohne Rechtschreibfehler daherkommt. Das ist heutzutage eine absolute Rarität.
Walter C. Willett, Patrick J. Skerrett „Harvard Medical School Guide Gesunde Ernährung“, 1. Auflage, TRIAS Verlag 2022. 24,99 EUR.
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Vielen Dank,
das Buch werde ich mir wohl demnächst kaufen.
Ich frage mich nur warum man Kartoffeln vergessen soll?
Ich wüsste nichts was dagegen spricht (außer frittierte natürlich)
Viele Ernährungswissenschaftler*innen sehen Kartoffeln teilweise kritisch, weil sie viele Kohlenhydrate enthalten und deshalb eine höhere Kaloriendichte als nicht-stärkehaltiges Gemüse aufweisen. An sich können aber Kartoffeln natürlich sehr gut in eine gesunde, abwechslungsreiche Ernährungsweise integriert werden.
Vollkorn Produkte haben noch mehr Kalorien.
Als Beilage ist die Kartoffel, doch wesentlich sinnvoller als z.B. Nudeln.
Super Beitrag über gesunde Ernährung. In der heutigen Corona-Zeit mehr als wichtig.